Sophokles und antikes Demokratieverständnis

 

 

MACHT, ETHOS UND REFLEXION

 

Sophokles‘ Dramen wurden ursprünglich als Teil der staatlichen Feierlichkeiten zu Ehren des Gottes Dionysos aufgeführt. Das Theater war im antiken Athen Teil einer politischen Veranstaltung, in der anhand mythischer Themen Grundfragen und Konflikte des Gemeinwesens abgehandelt und reflektiert wurden. Anna Wieder beschäftigt sich in ihrem Seminar „Antigones Widerstand“ an der Universität Wien mit dem Demokratieverständnis der Antike sowie mit Fragen des moralischen und politischen Handelns in Sophokles‘ Tragödie.

1.       Was ist die antike Polis?

 

Die Polis ist der antike Stadtstaat, das politische Gemeinwesen. Das Wort Politik leitet sich von diesem Begriff ab. Athen war zu Lebzeiten Sophokles‘ die Hochburg der Demokratie, die erste wirkliche Demokratie. Die Bürger durften an allen die Gemeinschaft betreffenden Entscheidungen teilnehmen. Ähnlich einer direkten Demokratie gab es eine Volksversammlung, die Ekklesia. Zwei Grundrechte galten dort: Jeder Bürger erkennt jeden als gleich und frei an. Und jeder Bürger hat das gleiche Recht in der Versammlung zu sprechen. Allerdings waren nur Männer im kriegsfähigen Alter aus Athener Familien als Bürger anerkannt.

 

2.       Wie kann man sich das Verhältnis zwischen Herrscher und Polis vorstellen?

 

Um Oligarchien und Clanherrschaften vorzubeugen, wurden in Athen die politischen Ämter in Rotation besetzt. Teilweise wurden die Posten im Losverfahren unter den Bürgern verteilt, um die Teilhabe möglichst breit zu streuen. Der Gedanke dahinter war die Polis als eine Art „öffentliche Familie“ wahrzunehmen, zu der jeder seinen Teil beitragen soll. So wurden z.B. Trauerriten, die bisher im Oikos, im privaten Familienbund, von Frauen geleitet stattfanden, in die Öffentlichkeit geholt.

 

3.       Wo liegt hier der Unterschied zur damaligen Realität und dem Theben, das Sophokles beschreibt?

 

In Sophokles‘ Dramen wird im Grunde keine demokratische Gesellschaft gezeichnet, eher ein aristokratisches Machtsystem. Die Familien um Ödipus und Kreon sind alte Herrschergeschlechter. Das Theben, das Sophokles beschreibt, entspringt Mythen, die weit älter sind als die attische Demokratie seiner Zeit. Dennoch reflektiert Sophokles in seinem Stück auf Umstände und Umbrüche seiner Zeit. Die Tragödie verhandelt vor den im Publikum anwesenden Bürgern grundlegende moralische und politische Konflikte, die auch das Leben in der attischen Polis betreffen.

 

4.       Wie viel Mitspracherecht hatten Frauen damals?

 

Das Idealbild war zwar die Gleichheit aller Bürger, aber Bürger waren eben nur erwachsene Männer. Dass Antigone als Frau, die eigentlich dem Oikos zugeteilt ist, in der Öffentlichkeit spricht, war damals ein völliger Skandal. Antigone und Ismene sprechen zu Beginn des Stücks nur heimlich. Ismene spricht vor Kreon nur, wenn sie dazu aufgefordert wird. In „Ödipus“ will Jokaste nur wenig preisgeben. Umso erstaunlicher ist es, wie Antigone als Sprechende auftritt. Antigone macht sich somit mehrfach „schuldig“: Sie verstößt gegen das Bestattungsverbot, widerspricht Kreon und ergreift am Ende noch eigenmächtig das Wort, um sich öffentlich an die Bürger Thebens zu wenden.  

5.       Ödipus geht persönlich dem „Fluch“, also dem Unheil Thebens nach, geht daran aber auch zu Grunde. Kreon scheint daraus Konsequenzen gezogen zu haben. Worauf stützt er sich in seiner Machtethik?

 

Zwischen den Handlungen von „Ödipus“ und „Antigone“ zerstreiten sich Antigones Brüder Eteokles und Polyneikes. Daraus resultiert ein Bruderkrieg, getrieben von Machtgier und Egoismus. Kreon will die innerfamiliären Machtkämpfe um Theben unbedingt beenden. Dafür stellt er das Gesetz des Staates über alles – auch seine eigenen familiären Verpflichtungen. Er erklärt seinen Neffen Polyneikes, der gegen Theben zu Felde gezogen war, zum „Verräter“, der nicht begraben werden darf. Sein Vorhaben, das Wohl der Stadt zu schützen, verfolgt Kreon jedoch nicht nur mit an Überheblichkeit grenzender Beharrlichkeit, sondern auch zu eindimensional. Seiner Maxime ordnet er zu viel unter: Er negiert die religiösen und kulturellen Bedürfnisse seiner Untertanen, verleugnet seine eigenen familiären Pflichten und billigt letztlich Antigones Tod. Kreon will nicht anerkennen, dass die „öffentliche Familie“ doch anders funktioniert als private Beziehungen. Familiäre Liebe ist eben etwas anderes als bürgerliche Freundschaft.

6.       Wie lässt sich der Politiker Kreon beschreiben?

 

Kreon ist aus der damaligen politischen Sicht kein Tyrann, denn er stellt das Wohl der Bürger in den Vordergrund. Auch ist sein Herrschaftsanspruch auf jeden Fall gegeben. Ein Tyrann war in der damaligen Zeit jemand, der seine eigenen Interessen in den Vordergrund stellt. Kreon setzt das Wohl des Staates über alles. Darin liegt am Ende des Stückes aber seine Verfehlung. Es gibt nicht nur Politik, sondern eben auch die privaten Werte, die in familiären Kulten und Riten gepflegt werden. Kreon befolgt das menschliche Gesetz, aber übersieht, dass er auch gegenüber anderen Instanzen, wie der Familie, den Göttern, Thebens Geschichte und der Stimme des Volkes verpflichtet ist. Kreon ist im klassischen Sinne ein tragischer Protagonist, genau wie Ödipus. Sie überschätzen sich selbst und verfolgen mit eingeschränkter Perspektive ihr individuelles Ziel, an dem sie notwendigerweise scheitern.

 

7.       Ödipus und Antigone gehen für ihre Überzeugungen in den selbstgewählten Tod. Das erhöht sie moralisch. Haben sie damit aber auch das Recht auf ihrer Seite?

 

Dazu hat Hegel einen wichtigen Interpretationsanstoß gegeben: Die Figuren des „Ödipus“ und der „Antigone“ unterscheidet das Wissen bzw. Nicht-Wissen um das Gesetz, das sie brechen. Antigone weiß, dass es ein von Menschen gemachtes Gesetz gibt, und handelt wissend dagegen, Kreon wendet sich in gleicher Weise gegen göttliche Gebote. Beide handeln autonom, unbeugsam, aber eben auch starrsinnig.

 

Ödipus weiß dagegen nicht, dass er ein Verbrechen begangen hat. Bei Ödipus gibt es eine Teilung zwischen seiner subjektiven Perspektive als Täter und der objektiven Perspektive als Richter seiner Handlungen. Er betrachtet sich selbst bis zur Aufklärung des Mordes an Lajos als unschuldig. Danach richtet er über sich ausschließlich nach objektiven Gesichtspunkten und schenkt seiner subjektiven Handlungsperspektive keine Berücksichtigung. Indem er eine solch eindimensionale Urteilsperspektive einnimmt, macht Ödipus denselben Fehler wie Kreon, der nur die vermeintlich objektive Perspektive des Wohls der Stadt im Auge hat. Beide setzten damit einen spezifischen Blickwinkel absolut – und verkennen, dass es immer auch andere Positionen zu berücksichtigen gibt. Sophokles wollte den Bürgern in seinen Dramen also aufzeigen was passiert, wenn sie ihre Einstellungen und ihr eigenes Handeln nicht reflektieren.

 

8.       Ist unser demokratisches System heute immer im Recht?

Was die Demokratie gegenüber anderen Regierungsformen auszeichnet, ist der Umstand, dass es immer möglich sein muss, die Gestalt und rechtliche Verfasstheit der Ordnung kollektiv neu auszuhandeln. Was rechtens ist, ist in diesem Sinne nicht durch göttliche oder andere Autoritäten festgelegt, sondern dadurch, dass der demos, also das Staatsvolk, kollektiv darüber disputiert. Das Ergebnis demokratisch-politischer Auseinandersetzungen kann als positives Recht institutionalisiert werden, bleibt aber auch immer politisch beeinspruchbar und veränderbar. Daher liegen in demokratischen Systemen die Möglichkeit zur Verbesserung des gesellschaftlichen Miteinanders und das Risiko des Verlusts sicher geglaubter sozialer Errungenschaften eng beieinander. Jene politischen Systeme, die sich als demokratisch begreifen wollen, müssen lernen, mit diesen inhärenten Spannungen umzugehen und die wesentliche Konflikthaftigkeit der Demokratie auszuhalten. Eine demokratische Haltung setzt daher voraus, Konflikt zu akzeptieren, d.h. Uneinigkeit weder autoritär zu unterdrücken noch harmonistisch wegzuleugnen – Stichwort Message Control. In Bezug auf das Recht heißt das gerade nicht, dass das Recht blind der Politik zu folgen hat, sondern dass in der Demokratie auch das Recht einen spezifisch politischen und konflikthaften Sinn hat. Die Menschenrechte sind beispielsweise keine unpolitischen Bestimmungen, sondern haben den wichtigen, eminent politischen Sinn, demokratische Werte wie Freiheit und Gleichheit gegen autoritäre und totalitäre Auswüchse zu verteidigen. Das ist angesichts der gegenwärtigen politischen Verhältnisse auch dringend notwendig.

 

Anna Wieder ist Universitätsassistentin am Institut für Philosophie der Universität Wien. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der politischen Philosophie und der Ethik. In ihrer Dissertation befasst sie sich mit dem Spannungsverhältnis von Demokratie und Widerstand. 

 

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