< zurück zu: Romeo und Julia

Gespräch: „Freiheit in der Liebe ist eine Illusion“

Soziologin Laura Wiesböck im Gespräch mit Kai Krösche.

Soziologin Laura Wiesböck im Gespräch mit Kai Krösche.

 

„Romeo und Julia“ erzählt die Geschichte einer ungestümen Ausnahmeliebe wider gesellschaftliche Grenzen, Tabus und Normen – einer radikalen Liebe bis in den Tod. Doch wie verhält es sich eigentlich mit der großen, romantischen Liebe aus soziologischer Sicht? Wir führten ein Gespräch mit der Soziologin Laura Wiesböck von der Universität Wien über tradierte Ideale, Freiheit in der Liebe und Dating-Apps.

 

Angesichts von Online-Dating-Plattformen wird derzeit gerne das Ende der romantischen Liebe ausgerufen. Ist das Ideal der großen Liebe verloren?

Eine Reihe an Sozial-, Geistes- und KulturwissenschafterInnen würden das Gegenteil behaupten, nämlich dass das Ideal der romantischen Liebe heute ausschlaggebend für die Zerrüttung zahlreicher Beziehungen ist. Viele Menschen fühlen sich mit der Feststellung, dass auf anfängliche Romantik alltägliches Zusammenleben folgt, enttäuscht. Der Wegfall der hormonellen Berauschung und die bessere Kenntnis des Gegenübers lassen wenig Spielraum für Idealisierungen. Häufig werden dann neue Anläufe mit anderen Partnern gemacht, um auf diesem Weg zurück zum Gefühl der anfänglichen Verliebtheit zu gelangen.

Das romantische Liebeskonzept treibt Menschen also in die unablässige Suche nach dem „richtigen“ Partner. Wenn man in der vergangenen Beziehung nicht das volle Glück erlebt hat, wird das als Hinweis auf eine falsche Partnerwahl interpretiert. Oft handelt es sich aber weniger um Inkompatibilität, als um überhöhte Glückserwartungen und ein romantisches Scheitern, das in jeder langfristigen Beziehung vorprogrammiert ist.

 

Die Literaturgeschichte ist voll von Erzählungen über die wahre, unsterbliche Liebe – die nicht selten sehr schnell im Tod endet, wie bei Romeo und Julia. Inwiefern beeinflusst ein durch die Kunst tradiertes Ideal unsere Art, zu lieben?

Zuallererst muss man sagen: Die Geschichte von Romeo und Julia ist deshalb eine Geschichte der unsterblichen Liebe, weil beide in der anfänglichen Verliebtheitsphase gestorben sind. Ob sie langfristig eine gelebte Liebe, in der Alltag und Kompromisse hinzukommen, aufrechterhalten hätten können, bleibt ungewiss. Gelebte Liebe zeigt sich weniger durch Gefühlsmanie und leidenschaftliche Ergriffenheit, als vielmehr dadurch, ob man gewillt ist, mit den schwierigen Charakterzügen und Eigenheiten der anderen Person zu leben und sie zu akzeptieren, wie sie ist.

Die Kultur, in der wir sozialisiert sind, prägt das Ideal der romantischen Liebe als Basis für Partnerschaften, unter anderem durch in der Kunst tradierte Bilder – im Übrigen nicht nur in der so genannten „Hochkultur“, sondern auch in populären Darstellungen von Disney über Hollywood bis hin zu Heimat- und Liebesromanen. Damit werden Erwartungen und Hoffnungen von Glück geformt.

Die Ideale sind auch rhetorisch und damit kognitiv verankert, z.B. „die große Liebe finden“ oder “to find love”. Hier wird Liebe als etwas extern Bestehendes angesehen, das man finden muss. Gelebte Liebe ist allerdings etwas, das man zusammen herstellt und zwar kontinuierlich und immer wieder. Aus diesem Grund plädiert die amerikanische Feministin Bell Hooks dafür, statt dem Substantiv „love“ verstärkt das Verb „to love“ zu verwenden, um den aktiven Herstellungsprozess hervorzuheben.

 

Unsere moderne Gesellschaft verspricht uns unablässig die Freiheit, uns selbst verwirklichen zu können – und letztlich auch so zu lieben, wie wir es möchten. Sind wir wirklich so frei, wie wir es behaupten?

Freiheit in der Liebe ist eine Illusion. Nehmen wir als Beispiel die Partnerwahl. Dass zwei Menschen eine Beziehung eingehen, ist ein sozial und kulturell bedingtes Geschehen. Zahlreiche Faktoren bestimmen mehr oder weniger bewusst die Wahl des Partners: die soziale Herkunft, das Bildungsniveau, die finanzielle Lage, der gesellschaftliche Status, die politische Neigung, die Religionsangehörigkeit, Wertvorstellungen, in welchem Ausmaß Männlichkeit oder Weiblichkeit die eigene Identität definiert, das Nähe- und Distanzverhalten aber auch körperliche Faktoren wie Aussehen, Bewegung und Geruch.

Allgemein kann man sagen, dass sich Menschen zu dem hingezogen fühlen, was ihnen vertraut ist, etwa zu Personen mit ähnlicher sozialer und regionaler Herkunft, wie es häufig der Fall ist. Das kann dann auch bedeuten, dass Personen aus konfliktbehafteten Familien überwiegend Partnerschaften eingehen, in denen sie die ihnen vertraute Konfliktbehaftung leben können.

 

Vom einzelnen Menschen werden zunehmend Selbstoptimierung und -vermarktung und ein damit verbundener erfolgs- und zielorientierter Einsatz der eigenen Ressourcen gefordert. Da scheint ein aller Mäßigung, Taktik und Vernunft trotzender Liebeswahn wie jener, in den sich Romeo und Julia begeben, wie das Aufbegehren gegen ein gesellschaftliches Korsett.

Der Liebeswahn ist heute vor allem mit der Angst vor dem Verlust der emotionalen Souveränität verbunden. Die israelische Soziologin Eva Illouz geht davon aus, dass die Liebe bedroht ist, weil wir nicht akzeptieren wollen, dass Liebe weh tut. In säkularen utilitaristischen Kulturen geht es primär um das Streben nach Vergnügen, da hat Leid wenig Platz und Nutzen – ganz im Gegensatz zu christlichen Kulturen, in denen es Orte für Leid gibt und dieses sinnvoll verwertet werden kann. Längere Phasen des Liebesleids widersprechen dem heutigen Vergnügungsimperativ, mindern die eigene Produktivität und werden dementsprechend versucht zu umgehen, z.B. durch neue Liebschaften oder Medikamente.

Hinzu kommt, dass in der Moderne emotionale Verwundbarkeit als Schwäche angesehen wird, besonders bei Männern. Das hat sich historisch verändert. In der höfischen Liebe etwa war Liebesleid eine Möglichkeit, männliche Tapferkeit zu demonstrieren. Romantisches Liebesleid hatte die Funktion, Persönlichkeitsstärke zu beweisen und den Schmerz in eine erhabene Erfahrung zu verwandeln. Heute wird es als eine gänzlich nutzlose Erfahrung wahrgenommen, die den Selbstwert infrage stellt und die eigene Grundlage zerstört.

 

Die Funktionsmechanismen von Dating-Apps wie Tinder, in denen sich Menschen freiwillig gegenseitig einer oft flüchtigen Bewertung durch das Gegenüber aussetzen, betonen so unverhohlen wie wertungsfrei den Warencharakter von Liebe, Begehren und Zuneigung. Ist etwa selbst unsere Privatsphäre ökonomisiert?

In den vergangenen vier Jahrzehnten fand eine zunehmende Ökonomisierung sozialer Beziehungen statt, ein Umsichgreifen ökonomischer Modelle zur Gestaltung des Selbst und seiner Gefühle. Tinder ist ein Beispiel für eine Online-Partnersuche nach ökonomischen Marktmechanismen. Die App dient als Begegnungskontext zur Erhöhung der eigenen Chancenstruktur am erotischen Partnermarkt. Der quantifizierende Aspekt ist entscheidend: Wie viele Matches habe ich? Dieser Gradmesser wird gleichgesetzt mit Anerkennung in Form von Attraktivität am Partnermarkt, oder in anderen Worten: mit dem eigenen Marktwert. Darum häufen sich auf Tinder auch vergebene Personen auf der Suche nach Selbstbestätigung und dem eigenen Attraktivitätsnachweis.

 

Und dennoch gehen aus Tinder auch immer wieder stabile Liebesbeziehungen hervor – und suchen Menschen dort nicht zwingend nach der Bestätigung ihres „Marktwerts“, sondern tatsächlich einfach nach einem Menschen, den sie näher kennenlernen und gegebenenfalls auch lieben können. Beinhalten Apps dieser Art nicht auch eine Chance jenseits der Regeln des Marktes?

Die ökonomische Herangehensweise mag nicht zwangsläufig die ursprüngliche Intention von Nutzern sein, sie ist aber der Logik von Tinder inhärent. Eva Illouz beschreibt, dass das Prinzip „swipe left or swipe right“ eine Form der binären und einseitigen visuellen Evaluation institutionalisiert: das Gegenüber ist entweder hot oder not. Innerhalb von Sekunden werden auf Basis von Äußerlichkeiten Entscheidungen getroffen. Anziehung und Ablehnung sind damit nicht etwas, das man zwischenmenschlich und emotional entwickelt, sondern etwas, das in kürzester Zeit ohne Interaktion rein visuell bestimmt wird. Das führt zu einem konsumorientierten Durchforsten des Partnerangebots sowie zu einer Verfestigung des Annäherungsprinzips nach der visuellen Logik.

Ohne Zweifel bietet Tinder Chancen, etwa eine gewisse Erwartungssicherheit, dass andere User motiviert sind, erotische Kontakte einzugehen, wie auch eine hohe Anzahl potenzieller Kandidaten. Im Alltag ist man überwiegend auf zufällige Begegnungen angewiesen, meist in sozial vorstrukturierten Kontaktnetzwerken. Auch ist oft nicht klar, welche Personen eigentlich am Partnermarkt verfügbar sind. Im Gegensatz dazu ist Online-Dating für die Partnersuche systematisch und zielorientiert. Gleichzeitig kann die dortige Sichtbarkeit der Vielzahl an Optionen auch zu einer Entscheidungsschwäche führen, zu einer mangelnden Bereitschaft, sich festzulegen.

 

Inwiefern formt der Umstand zunehmend instabiler Verhältnisse und einer damit verbundenen ungewissen Zukunft unsere Art, zu lieben?

Der Druck auf die Liebe als Ort sozialer Anerkennung wird damit größer. Der Selbstwert ist stärker an Liebe geknüpft, weil es heute große Statusunsicherheiten gibt und – im Gegensatz zur Vormoderne – die eigene gesellschaftliche Position kontinuierlich ausverhandelt werden muss. Als Mitglieder einer kompetitiven Gesellschaft sind wir unaufhörlichen Evaluierungen ausgesetzt. Der einzige Ort, in dem man hofft, dem Evaluiertwerden zu entkommen, ist der der Liebesbeziehung. Dort ist man die Nummer eins, die Einzige, der Gewinner. Damit trägt Liebe eine Anerkennungsfunktion, die sie zuvor nicht hatte, was erhöhten Druck und eine größere Vulnerabilität mit sich bringt. Ablehnung greift den Selbstwert dann stärker an. Aus diesem Grund fällt es vielen Menschen schwer, ihre emotionale Unabhängigkeit aufzugeben.

Das Gespräch führte Kai Krösche.

 

< zurück zu: Romeo und Julia

Mein Besuch

0 Einträge Eintrag

Voraussichtliche Besuchszeit

Liste senden