WIE GEHT ES EINEM MENSCHEN, DER SEINE WELT VERLOREN HAT?
Ein Gespräch mit dem renommierten Kulturwissenschafter Dr. Wolfgang Müller-Funk über Joseph Roth, „Die Flucht ohne Ende“ und die Weltdistanz des Franz Tunda.
Die Geschichte von Franz Tunda erzählt ein ungewöhnliches, aber beispielhaftes Schicksal der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Wie wirkte die historische Situation auf das Individuum?
Das Ende des Ersten Weltkriegs, der Zusammenbruch der Imperien in Zentral- und Osteuropa, der Ausbruch der bolschewistischen Revolution in Russland – das waren einschneidende Ereignisse. Sie haben aus Franz Tunda einen Fremden gemacht, er ist heimatlos geworden. Nicht alle politischen oder weltpolitischen Ereignisse betreffen die Personen so unmittelbar. Ödön von Horváth hat geschrieben: Der Krieg ist ein Weltkrieg, weil wir dort eine Welt verloren haben. Vielleicht ist es einmalig in der Geschichte, dass ein Krieg damit endet, dass in fast allen Ländern die bisherigen Eliten die Verlierer des Krieges sind. Dem begegnen wir in „Die Flucht ohne Ende“ auch, wenn Tunda nach Köln zu seinem Bruder kommt. Man hat nicht das Gefühl, dass eine sichere, zukunftsträchtige Welt entstanden ist.
Was ist es genau, das Franz Tunda mit der K.-u.-k.-Monarchie verloren hat?
Franz Tunda hat eine altösterreichische Identität. Nach 1918 ist diese merkwürdige polyphone multikulturelle Identität der Österreicher verschwunden. Das ist die nationale Ebene. Zusammengebrochen ist aber auch sein politisches Bezugssystem. Denn er fühlt sich auf Dauer weder in diesem Russland, dem er sich zeitweilig über die Liebe zur Revolutionärin Natasha anschließt, heimisch, noch im Rheinland, wo sein Bruder lebt.
Wie reagiert Franz Tunda auf diesen Verlust?
Die Antwort auf Bezugsverlust ist Melancholie. Melancholie bedeutet immer, dass man etwas nachtrauert. Im Falle der Kriegsheimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg geht es auch um einen Machtverlust. Auch im Roman spielt das Genderthema eine große Rolle. Die Bezugsverhältnisse zwischen Männern und Frauen ändern sich, die Frauen sind selbstbewusster geworden. Die Männer, die aus dem Weltkrieg kommen, finden eine vollkommen veränderte Welt vor: ethnisch-national, politisch und gendermäßig. Sigmund Freud bezeichnet in seinem Aufsatz „Über Trauer und Melancholie“ die Melancholie als eine unproduktive Trauerform um ein Liebesobjekt – das kann eine Frau sein oder etwas anderes. Hier ist das verlorene Liebesobjekt natürlich die untergegangene Monarchie, die im Hintergrund steht.
In Ihrem Buch über Joseph Roth schreiben Sie, dass diese melancholischen Männerfiguren wie Franz Tunda gerade wegen ihrer Weltdistanz eine gewisse Erotik ausstrahlen.
Weltdistanz ist ein wichtiges Merkmal, das andere ist Kommunikationslosigkeit, gerade auch zwischen den Geschlechtern. Diese Männer wollen nicht reden. Tunda hat diesen polnischen Freund, der in Sibirien lebt. Später nimmt er eine Frau, mit der er nicht sprechen muss. Alja und Franz Tunda verstehen sich vielleicht auf einer Gewohnheitsebene, vielleicht auf einer sexuellen Ebene, aber sprachlich nicht. Ich würde sagen, Franz Tunda ist ein nicht-aggressiver Macho. Wie viele Helden von Joseph Roth. Diese Männer wollen die Frauen zu nichts zwingen. Sie sind eher traurig, resigniert, einsam und unnahbar, introvertiert und verletzlich. Das macht sie vielleicht auch für manche Frauen attraktiv.
In dem Roman operiert der Autor Joseph Roth mit der Erzählerfigur Joseph Roth. Welche Funktion hat dieser Kunstgriff?
Joseph Roth ist ein scheinbar simpler, aber in Wirklichkeit hinterlistiger Erzähler. Das zeigt sich in „Die Flucht ohne Ende“ auch an der fiktiven Autorenfigur, die er mit seinem Namen in Verbindung bringt. Damit hat Roth fast postmoderne Elemente antizipiert. Ein Beispiel dafür ist der Briefwechsel zwischen der Hauptfigur Tunda und dem fiktiven Autor Joseph Roth. Hier wird ein Spiel in Gang gesetzt, in dem die eindeutigen Identitäten durchbrochen werden. Diese Aufspaltung von Identitäten ist bis heute ein wirksames Motiv, das aus der postmodernen Philosophie und der postmodernen Literatur nicht wegzudenken ist.
Wir verwenden die Erzählerfigur gewissermaßen auch als szenischen Impulsgeber. Franz Tunda wird ja im Roman durch äußere Impulse vorangetrieben. Bis schließlich keine Impulse mehr kommen.
Sich treiben zu lassen ist das Programm von Franz Tunda. Er sieht Natasha und folgt ihr in die Revolution. Auch die Beziehung zu seiner zweiten Geliebten ergibt sich einfach so. Halb neugierig, halb gleichgültig folgt er den Zufällen, die das Leben bereithält. Das hängt auch mit dieser inneren Weltdistanz zusammen. Er ist kein Aktivist, handelt nicht strategisch. Diesbezüglich gibt es eine wunderschöne Anekdote über den realen Joseph Roth. Eines Tages saß er mit seinem Freund Ludwig Marcuse in einem Pariser Café. Ludwig Marcuse heult sich bei Joseph Roth aus – seine Geliebte hatte ihn verlassen. Als eine Kellnerin an den Tisch der beiden kommt, schaut Roth die Kellnerin an und sagt zu Marcuse: „Warum nimmst Du denn nicht diese Frau?“ Ludwig Marcuse ist übrigens dem Rat von Roth gefolgt.
Die Handlungshemmung des Franz Tunda ist für die Disposition dieser Anti-Helden, die eine Welt verloren haben, ganz typisch. Das ist eine bekannte psychische Reaktion und war ein völliges Gegenmodell zu der kämpferischen Figur, die zeitgleich nach 1917/18 hervorstach, wie der Austromarxist in Wien, der Bolschewistische Revolutionär, die Gegenrevolutionäre. Diese Typen wollten handeln. Tunda unternimmt nicht mal große Verführungsversuche. Wenn er merkt, dass eine Frau auf ihn steht, schläft er mit ihr. Er ist selbst im urerotischen Bereich kein Aktivist. Er wartet, was sich ergibt.
Geht es dabei auch um den Verlust eines spirituellen Überbaus? In „Die Flucht ohne Ende“ kommen Religionen nur mehr als Kitschobjekte im bildungsbürgerlichen Haushalt von Georg vor.
Die spirituelle Heimatlosigkeit ist sicher ein Thema und eine Parallele des Romans zu Roths Leben. Als Ostjude, der keine Heimat hat, ist ihm die Heimatlosigkeit seiner Figuren vertraut. Roth ist kein Heimatautor und keiner, der die Heimat sucht, sondern ein Dichter, der paradoxerweise Heimatlosigkeit als einen Zustand des modernen Menschen letztendlich befürwortet. Auch wenn es ihn traurig macht. Ich bin nicht sicher, ob das Werk von Joseph Roth an sich spirituell ist. Aber interessant ist die Funktion, die Religion in seinem Werk hat.Seine Sympathien für den Katholizismus haben wenig mit der konservativen katholischen Kirche seiner Zeit zu tun, sondern er affirmiert den Katholizismus – wie hundert Jahre zuvor die deutschen Romantiker – auf Grund seiner kosmopolitischen universalistischen Dimension. Was Roth hasst, ist der Nationalismus.
Joseph Roth kannte die Orte, die er in „Die Flucht ohne Ende“ beschreibt, sehr gut. In den Jahren, bevor er den Roman schrieb, war er u.a. Reporter in Paris und Russland. Wie viel Reportage, wie viel Romantik steckt in seinem Roman?
Dieser Exilort in Sibirien und dieses Männerleben, das da fantasiert wird – das lässt eine märchenhafte Überformung deutlich werden. Roths Reportagen sind oft sehr analytisch, aber im Roman arbeitet er mit überformten, positiv oder negativ romantisierten Darstellungen. Auch seine Figuren gewinnen keine starke psychologische Individualität. Mit sehr schneller Schrift entwirft er stereotypenhaft einen jüdischen Korallenhändler, eine kaukasische Frau, eine Wiener Bürgerstochter und dieses deutsche Familienleben des Bruders. Diese Typisierungen und Beschreibungen gehen nicht individualpsychologisch in die Tiefe. Sondern Roth skizziert Figuren, die sehr stark flächig sind und dadurch stark aufgeladen werden können.
Stimmt das Russlandbild in seinen Reportagen mit den Typisierungen in seinem Roman überein?
Es gibt sehr große Überschneidungen zwischen dem Russlandbild in dem Roman und den Reisefeuilletons. In beiden Medien nimmt man ein Unbehagen wahr. Aber während ein Roman keine Aussage treffen muss, war die Sache für Roth bei den Feuilletons schwieriger. Die Frankfurter Zeitung, in deren Auftrag er in die Sowjetunion reiste, war eine linksliberale Zeitung, deren Leserschaft eine gewisse Sympathie für Sowjetrussland hegte. Roth operierte sehr diplomatisch. Er macht deutlich, dass er den Glauben an die russische Revolution verloren hat. Aber er wollte nicht als Antikommunist gelten. In den persönlichen Notaten wird auch deutlich, dass er viel mehr wusste, als er geschrieben hat. Joseph Roth hat selber damit gerechnet, dass es zu großen Säuberungen innerhalb der Partei kommen würde. Sein bester Informant war nach meinen Recherchen sein Landsmann Karl Radek, der im Zentralkomitee der Partei saß.
Auch Deutschland kommt nicht gut weg in „Die Flucht ohne Ende“. Welches Verhältnis hatte Joseph Roth zur deutschen zeitgenössischen Literatur, der Neuen Sachlichkeit?
In den Werken der Neuen Sachlichkeit hat er eine Ähnlichkeit zu seinen Romanen gesehen. Bei Erich Kästner fand er eine Art von linker Melancholie, Kästners Figuren sind zum Teil auch verkappte Melancholiker. Joseph Roth hat darin eine Art Wahlverwandtschaft entdeckt. Und es gibt natürlich das wichtige Verwandtschaftsmerkmal, dass sich Joseph Roth wie die Autoren der Neuen Sachlichkeit für marginalisierte Menschen interessieren und mit ihnen mitempfinden. Wie bei Ödön von Horváth ist auch bei Joseph Roth das soziale Moment seines Schreibens stabil. Aber Joseph Roth war viel zu sehr ein Mann einer verlorenen gegangenen Welt. Dieser habsburgische Mythos, diese Märchenwelt, ist natürlich völlig inkompatibel mit jeder Art von neuer Sachlichkeit.
Wie ist denn dieses europäische Vielvölkerreich, dem Joseph Roth in seinem Werk gewissermaßen nachtrauert?
Das geht um ein Europa, das aus der Habsburgermonarchie hätte werden können. Es handelt sich also um eine rückwärtsgewandte Utopie. Joseph Roth ging nicht davon aus, dass die Habsburgermonarchie eine ideale Gesellschaft war, er verfolgte eher ein imaginäres Bild oder eine verpasste Möglichkeit. Dieser habsburgische Mythos erzählt von einem radikal weltoffenen, weltbürgerlichen Reich, in dem alle ethnischen Gruppen, vor allem die slawischen, ihren Ort haben – diese Monarchie hat es nicht gegeben.
Es geht also nicht nur um den Verlust einer Vergangenheit, sondern einer möglichen Zukunft?
Das ist, wenn Sie so wollen, ein romantischer Topos, und bedeutet auch, dass jede Kritik, die sich gegen dieses romantische Ideal der Habsburgermonarchie richtet, mit dem Argument, dass es so nicht gewesen sei, die Sache nicht wirklich trifft. In Roths Sehnsucht geht es um das Potential, das in dem Vielvölkerreich steckte. Dieses Potential, diese Möglichkeit, kommt in der neuen Welt, in der Joseph Roth lebte, nicht zum Tragen. Diese Hinwendung zu einem irrealen Bezugspunkt folgte einer Entwicklung, die ungefähr zur Zeit der Entstehung von „Die Flucht ohne Ende“ stattgefunden hat. Bevor er diesen Roman geschrieben hat, hatte Joseph Roth eine diffuse Art von Sozialismus als politischen Bezugspunkt. Aber die Entwicklungen in der Weimarer Republik und sein Aufenthalt als Reporter in Sowjetrussland haben ihn desillusioniert. Ich habe immer einen Zusammenhang zwischen dem Verlust realer politischer Angebote und Joseph Roths imaginärer Rückwanderung in die Vergangenheit gesehen.
Vielen Dank für das Gespräch!
Dr. Wolfgang Müller-Funk ist Literatur- und Kulturwissenschafter.
Er lehrt u.a. an der Universität Wien und forschte zuletzt an der New School for Social Research in New York und der römischen Universität La Sapienza.
Sein Buch „Joseph Roth – Besichtigung eines Werkes“ ist im Sonderzahl Verlag erschienen.